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APPELL AN DIE BUNDESREGIERUNG VON 293 ORGANISATIONEN

An die neue Bundesregierung: Appell für eine verantwortungsvolle Migrationspolitik - Mit ihrem Koalitionsvertrag stellen Union und SPD die Verantwortung für Deutschland ins Zentrum ihres Handelns. Zum Amtsantritt der Regierung machen 293 Organisationen und Verbände deutlich:

Diese Verantwortung muss für alle Menschen in Deutschland gelten.

Der Wahlkampf war geprägt von einer aufgeheizten Stimmung, die sich vor allem gegen

Geflüchtete und Zugewanderte richtete. Das hat sich auch im Koalitionsvertrag

niedergeschlagen. Doch die Ausgrenzung einzelner Gruppen schafft ein Klima der Angst für

alle und untergräbt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Am Ende nützt das nur den Feinden

einer freiheitlichen Demokratie. Damit muss endlich Schluss sein.

Zugewanderte und hierher geflüchtete Menschen sind integraler Teil unserer Gesellschaft –

sie gehören zu Deutschland. Sie bereichern uns in allen Bereichen, ob in Familie und

Freundeskreis, der Nachbarschaft, den Schulen, den Sportvereinen oder den Betrieben. Viele

von ihnen leisten jeden Tag unverzichtbare Arbeit – im Einzelhandel, im Krankenhaus, in der

Industrie, in der Gastronomie, an Flughäfen, im öffentlichen Nahverkehr oder ehrenamtlich in

Vereinen und gemeinnützigen Organisationen. Für uns ist klar: Unsere Gesellschaft gewinnt

ihre Stärke aus Offenheit, Vielfalt und der Überzeugung, dass allen Menschen gleiche Rechte

zukommen.

Nicht Geflüchtete und Zugewanderte spalten unsere Gesellschaft, sondern eine Politik, die

sich den strukturellen und sozialen Problemen unseres Landes zu lange nicht konsequent

angenommen hat. Die mittlerweile in der Gesellschaft verbreiteten Gefühle von

Verunsicherung und Überforderung beim Thema Flucht und Migration werden somit noch

verstärkt, anstatt ihnen mit guten Konzepten für eine funktionierende Asyl-, Aufnahme-, und

Integrationspolitik zu begegnen. Für die hohe Belastung von Kommunen und einzelnen

Berufsgruppen im Zusammenhang mit Migration werden allein Geflüchtete verantwortlich

gemacht, anstatt die tatsächlichen sozialen, politischen und finanziellen Ursachen dieser

Belastung anzugehen. So darf es nicht weitergehen. Was es jetzt braucht, ist eine

Migrationspolitik, die verantwortlich handelt, statt unsere offene und vielfältige Gesellschaft

zu gefährden.

Eine solche verantwortungsvolle Migrationspolitik…

❖ … schützt die Rechte der Einzelnen und somit aller – das gilt insbesondere auch für

das Recht auf Asyl. Das Bekenntnis zum Recht auf Asyl im Koalitionsvertrag ist

essenziell, reicht aber allein nicht aus. Es muss auch gelebt werden. Zurückweisungen

an den Grenzen, Abschiebungen in Krisenländer und eine Beweislastumkehr im

Asylverfahren zulasten Geflüchteter sind damit nicht vereinbar.

❖ … nimmt Sorgen und Ängste ernst, ohne sie zu befeuern. Eine demokratische

Gesellschaft lebt von der streitbaren Diskussion und verschließt nicht die Augen vor

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Herausforderungen. Doch dabei darf die kommende Bundesregierung nicht den

humanitären und menschenrechtlichen Kompass verlieren, der Grundlage unseres

Zusammenlebens ist.

❖ … fördert die Integration aller Menschen. Die nächste Bundesregierung sollte

Familien Sicherheit bieten, statt mit der Aussetzung des Familiennachzugs Integration

zu verhindern. Auch braucht es weiterhin Chancen für diejenigen, die schon lange bei

uns sind, weshalb das Erfolgsmodell des Chancen-Aufenthaltsrechts entfristet werden

sollte. Für ein freiheitliches Zusammenleben müssen zudem Wege zu sicheren und

gleichen Bürgerrechten durch Einbürgerung eröffnet werden, die keine Gruppen

ausschließen. Integration darf dabei nicht allein von der Arbeitsmarktintegration

abhängig gemacht werden, sondern es muss allen möglich sein, gleichberechtigte

Mitglieder unserer Gesellschaft zu werden.

❖ ... investiert in Strukturen für erfolgreiche Integration und Aufnahme. Die im

Koalitionsvertrag benannten Investitionen in die Integrationsstrukturen sind von

entscheidender Bedeutung und dürfen nicht unter Finanzierungsvorbehalt gestellt

werden. Dies gilt insbesondere für die vielfältigen zivilgesellschaftlichen Beratungs-

und Betreuungsstrukturen sowie Integrations- und weitere Sprachkurse. Integration

gelingt vor Ort in den Kommunen – diese müssen daher für ihre Aufgaben effektiv,

umfassend und nachhaltig finanziell ausgestattet werden.

❖ … nutzt alle vorhandenen Potentiale. Angesichts des Fachkräftemangels sollte die

Bundesregierung konsequent alle vorhandenen Potentiale von hier ankommenden

und lebenden Menschen nutzen und Hürden für Qualifikation und Arbeitsaufnahme

abbauen. Hier sind bereits wichtige Schritte im Koalitionsvertrag vereinbart, doch

braucht es darüber hinaus einen echten Spurwechsel und den konsequenten Abbau

der Arbeitsverbote für alle Geflüchteten. Auch Gruppen wie Alleinerziehende oder

Geflüchtete mit Behinderungen müssen beim Zugang zum Arbeitsmarkt unterstützt

werden.

❖ … schaut über den nationalen Tellerrand. Den weltweit zu beobachtenden

autoritären Entwicklungen sollte die neue Bundesregierung mit der Verteidigung einer

offenen, liberalen Gesellschaft begegnen, statt die Verantwortung für den

Flüchtlingsschutz durch die Streichung des sogenannten „Verbindungselements“ auf

Drittstaaten abzuwälzen oder sich durch fragwürdige Abkommen mit Drittstaaten in

politische Abhängigkeiten zu begeben. Sie sollte sich für eine solidarische

Verantwortungsteilung im internationalen Flüchtlingsschutz einsetzen und sichere

Zugangswege in Form von Resettlement und Aufnahmeprogrammen eröffnen, statt

sie zu beenden.

Die unterzeichnenden Verbände leisten täglich ihren Beitrag für eine Gesellschaft, die ihre

Stärke aus Offenheit, Vielfalt und der Zusammenarbeit von Menschen verschiedenster

Herkunft, Hintergründe und Fähigkeiten gewinnt. Wer die Demokratie verteidigen will, muss

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auch die Zivilgesellschaft und insbesondere migrantische Selbstorganisationen achten und

stärken.

Daher appellieren wir an die Bundesregierung: Übernehmen Sie Verantwortung für eine

offene Gesellschaft! Eine Gesellschaft, in der Einwanderung unterschiedlichster Art als

Chance begriffen wird; in der Zugewanderte und Geflüchtete als gleichwertig anerkannt

werden; in der Offenheit und Vielfalt als unsere Stärken begriffen werden.

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